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von detlef.streich » 23.07.2018, 15:29
Lebensmut27 schrieb:
Was ist das Leben wirklich?
Diese Frage stelle ich mir zur Zeit.
Diese Frage lässt offen, als was man das Leben zu betrachten hat?
Deine Fragen, Lebensmut 27, sind spannend und haben mich veranlasst, einen kleinen Artikel dazu zu verfassen. Noch habe ich ihn nicht eingestellt, weil hoffe, dass hier aus dem Forum noch einige anregende Gedanken beigesteuert werden, die ich dann noch einarbeiten würde.
An den Admin: Vielleicht wäre es gut, damit mehr Leute sich mit dieser Frage beschäftigen, das Ganze nach "NAK" zu verschieben???
Was ist das Leben? DS 23.7.2018
Nach einem Sektenausstieg und der Befreiung vom bisher geglaubten Irrtum stellt sich häufig die Frage „Was ist das Leben wirklich? Welchen Sinn hat das Leben?“
Eine wahrlich spannende Frage, mit der nicht nur die rein biologische Definition des vor etwa 4 Milliarden Jahren evolutionär entstandenen und sich bis heute weiter entwickelten Lebens mit seinen Kennzeichen „Stoffwechsel, Vermehrung, Wachstum, Reaktionen auf Reize etc“ gemeint ist. Je nachdem, an welcher wissenschaftlichen Fakultät, also Ontologie, Theologie, Psychologie, Philosophie etc und deren nochmals verschiedenen Ausrichtungen man sich orientiert, werden naturgemäß erstens schon die grundlegenden Ansätze und zweitens die daraus folgenden Definitionen bzw. Antworten verschieden sein – eine Vielzahl von Büchern und Aufsätzen zeugt davon! Hier nun nur einige Gedankensplitter zu einem Thema, das nicht nur Aussteiger mit ihrem nun neu zu bestimmenden Leben und dem Sinn des Lebens nach der gedanklichen Lösung von der kirchlichen Indoktrination, um nicht zu sagen seit Kindheit erlittenen, umfassenden Gehirnwäsche, beschäftigen wird. Die folgenden Überlegungen sollen aber keinesfalls als feststehende Antworten verstanden werden – dies ist bei einer derartigen Fragestellung ausgeschlossen – sondern lediglich Gedankenanregungen für die eigene Positionierung darstellen. Fangen wir also beim Ausgangspunkt an.
In der NAK galten für das sinnträchtige Leben folgende Prämissen (NGB 183b Text: Karl Johann Philipp Spitta (1833) ):
1) Wort des Lebens, laut're Quelle,
die vom Himmel sich ergießt,
Lebenskräfte gibst du jedem,
der dir Geist und Herz erschließt,
der sich, wie die welke Blume,
die der Sonnenbrand gebleicht,
dürstend von dem dürren Lande
zu der Quelle niederneigt.
2. Ohne dich, was ist die Erde?
Ein beschränktes, finstres Tal.
Ohne dich, was ist der Himmel?
Ein verschloßner Freudensaal.
Ohne dich, was ist das Leben?
Ein erneuter finstrer Tod.
Ohne dich, was ist das Sterben:
Nachtgraun ohne Morgenrot.
Diese Sicht ist absolut lebensfeindlich und psychologisch gesehen entmündigend und nekrophil. Wer in solchen Gedankenfesseln selbst und zudem an die NAK gebunden war, hatte einen äußerst schwierigen Weg vor sich, um aus diesem Gefängnis des Geistlichen Missbrauchs herauszukommen. „Draußen“ lauern ewiger Tod, seelische Vernichtung und absolute Gottesferne, nur „Drinnen“ scheinen Sicherheit und Gottesnähe gewährleistet; Ausstieg ist geistiger Selbstmord! In der Regel ist auch der vollständige Verlust aller gewohnten und Sicherheit gebenden Sozialkontakte mit dem Ausstieg verbunden. Was also ist dann noch das verbleibende Leben wert? Also doch Nachtgraun ohne Morgenrot? Dies scheint nur so zu sein, denn de facto ist der Ausstieg daraus tatsächlich der erste Einstieg ins wirklich eigene Leben. Bislang war das (eigene) Leben durch die Gedanken-, Gefühls-, Verhaltens- und Zielvorgaben der Sekte/Religion fremdgesteuert. Nachfolge garantierte Scheinsicherheit. Einzelgänger erreichen das Ziel nicht (Stap. Schneider). Nach dem Ausstieg kann und darf man für sich selbst entscheiden, wohin man will und welche Schritte dazu nötig sind. Vorher hatte man die Verantwortung abgegeben, nun muss man in jeder Beziehung die Verantwortung für alle zu treffenden Entscheidungen in jeglicher Weise selbst übernehmen. Der Mensch erfährt dabei als „Einzelner“ sein nun persönliches Sein als ein neues Da-Sein, als ein In-der-Welt-Sein mit allen Konsequenzen - auch der des ausgeliefert sein den möglichen Schlägen des Schicksals. Entweder begegnet ihm dann in der Wirklichkeit der Welt auch bzw. noch die Wirklichkeit Gottes, da ER ihr eigentlicher Grund und Ursache ist. Oder Gott wird als als reines Gedankenspiel in die ungeheure Ferne als der Initiator des Urknalls gerückt, der an der weiteren evolutionären Entwicklung des Kosmos und des Lebens keinerlei Anteil mehr hat. Die heutigen Wissenschaften brauchen zur Erklärung dieser physikalischen und biologischen Phänomene keinerlei einwirkende Gottesvorstellungen mehr. Demnach bleibt auch kaum mehr ein begründender Raum für die Annahme einer Gottesexistenz oder einer weiteren Existenz des Menschen nach dem biologischen Tod und somit auch keinerlei Grund, welcher Religion auch immer zu folgen. Jegliche theologischen Erwägungen sind dann als absolut unnötig einzustellen. Einzig der Subjekt-Objekt-Dualismus zwischen Mensch und umgebender Wirklichkeit bleibt übrig.
Nimmt man hingegen weiterhin einen Gott als die Ursache alles Seienden an, muss aber die bisherige Gottesvorstellung und sämtliche damit verbundene Begrifflichkeit und Gedankenwelt radikal korrigiert werden. Der bisher angenommene und geglaubte Kirchengott mutiert dann zu einer bloßen Götzenfigur oder einem Dämon nach menschlichen Vorgaben und Vorstellungen. An dieser Stelle löst sich auch die theologisch nicht befriedigend zu beantwortende Frage nach der Theodizee auf – warum ließ oder lässt Gott das zu - und wird zur Anthropodizee: Nicht der Gott, den es ohnehin nicht gibt, muss sich rechtfertigen, sondern der Mensch als Individuum trägt die volle Verantwortung für die von ihm selbst verursachten Übel. Selbst Schäden durch Erbeben oder Tsunamis sind letztlich menschenverursacht, da freiwillig gefährdete Gebiete besiedelt oder Häuser aus Kostengründen zu schlecht gebaut wurden. Wenn die Idee der Anthropodizee nicht bald möglichst viele Menschen ergreift, wird nicht nur weiterhin der einzelne Mensch an anderen Menschen Schaden anrichten, sondern dann wird die Menschheit an sich weiterhin den fragilen Planeten so zugrunde richten, dass das Überleben der Menschheit an sich fragwürdig ist.
Über den GOTT hinter bzw. über Gott (Paul Tillich, siehe weiter unten) ließen sich aber auch im Sinne Meister Eckharts (Der Mensch kann nicht wissen, was Gott ist. Etwas weiß er wohl: was Gott nicht ist!) keine weiteren Aussagen machen, außer vielleicht Paul Tillichs Aussage folgend:
"‚Du bist angenommen!‘ Angenommen, bejaht durch das, was größer ist als Du, und dessen Namen Du nicht kennst. Frage jetzt nicht nach dem Namen, vielleicht wirst Du ihn später finden. Versuche jetzt nicht, etwas zu tun, vielleicht wirst Du später viel tun. Trachte nach nichts, versuche nichts, beabsichtige nichts. Nimm nur dies an, dass Du angenommen bist.“
Aus einer Predigt von Paul Tillich am 20. August 1946
Und die eingangs gestellte Frage nach dem Sein/Leben an sich und einer noch möglichen Religiosität bedeutet dann vielleicht, „leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern. Eine solche Auffassung macht die Religion zu etwas universal Menschlichem, wenn sie auch von dem abweicht, was man gewöhnlich unter Religion versteht. Religion als Tiefendimension ist nicht der Glaube an die Existenz von Göttern, auch nicht an die Existenz eines einzigen Gottes. Sie besteht nicht in Handlungen und Einrichtungen, in denen sich die Verbindung des Menschen mit seinem Gott darstellt. Niemand kann bestreiten, dass die geschichtlichen Religionen "Religion" in diesem Sinne sind. Aber Religion in ihrem wahren Wesen ist mehr als Religion in diesem Sinne: Sie ist das Sein des Menschen, sofern es ihm um den Sinn seines Lebens und des Daseins überhaupt geht. (Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit. Hamburg 1962, S. 8 ff.)
In diesem Sinn ist der einzelne Mensch an dieser Stelle also in die vollständige Geistesfreiheit bei allerdings gleichzeitiger und vollständiger Eigenverantwortung für sein Tun entlassen. Ferner ist er befreit vom Zwang jedweder religiösen Institution und deren Dogmen oder Ritualen wie von der Ausrichtung an jahrtausendealten, willkürlich zusammengestellten und letztlich von Menschen erfundenen biblischen Schriften, die völlig anachronistisch sogar als Maßstäbe für das heutige Leben genommen werden und teilweise die Entwicklung der eigenen Persönlichkeitsentfaltung maßregeln oder entscheidend be – oder sogar verhindern. Seine Aufgabe im Leben wird von nun an sein, sich auf den Weg zu machen, seinen eigenen „Sinn“ des Lebens für sich selbst zu entdecken und seine Persönlichkeit unter strikter Beachtung der Persönlichkeitsrechte der anderen Menschen zu entfalten, indem er z.B. zunächst seine eigenen, anerzogenen Verbiegungen erkennt und überwindet. Aus dem ehemaligen Glauben an bestimmte Vorgaben und Lehren wird das vollständige Ergriffensein einer Person von dem, was sie unbedingt angeht (Tillich) Dieses Unbedingte kann sich überall und in allen Strukturen des Seins ereignen. Dass der GOTT über Gott diesen Weg „begleitet“, begründet Paul Tillich wie folgt (Großschreibung GOTT v.V.):
„GOTT über Gott“ Wie ist das möglich? Weil GOTT nicht ein Seiendes ist, sondern der Grund alles Seienden, weil er als der schöpferische Grund alles Seienden auch der Grund meines Seins ist und nicht gegen mich steht. In meiner Selbstbejahung bejaht er sich selbst. Indem er an mir teilhat, ist Autorität hinfällig geworden. Das, was in mir Gott töten will, ist GOTT selbst, nämlich der Grund meines Seins und Sinnes – meiner Selbstbejahung. Man könnte dies den ‚GOTT über Gott‘ nennen, das heißt über jenem Gott, der ein höchstes Wesen und die Ursache jeder heteronomen und hypostasierten Autorität ist. Der wahre GOTT, der GOTT über jedem Gott, der ein Wesen ist, befreit uns von der totalen Autorität auch des höchsten polytheistischen Gottes, der in Wahrheit ein Dämon ist.“ P. Tillich, Autorität und Offenbarung, GW VIII, S. 69.
Diese „Gottesbefreiung“ ist radikal! Analog zu einem Jesuwort könnte man sagen, wer die Hand an diesen neuen Pflug legt und schaut zurück, der taugt nicht für dieses Neue Sein. Und alles, was auf diesem Weg individuell förderlich und positiv ist und der möglichst Entfaltung der eigenen Potentialität dient, gleich ob es Kunst, Musik, Malerei, Literatur, Tanz, Sport oder irgendetwas Anderes ist, kann damit zur theologischen Komponente werden, indem es den Einzelnen in wahrem Sinn unbedingt angeht und ihm hilft, das zu gestalten, was ihm im eigenen Inneren zutiefst Lebensidee ist oder wird. Aber hinter dieser potentiellen Entwicklung steht kein Leistungsdruck!
Aber fragt jetzt nicht mehr, „was wir tun sollen oder was für Taten aus dem neuen Sein und dem Frieden unserer Seele entstehen sollen. Fragt nicht, denn ihr fragt auch nicht, wie gute Früchte auf einem guten Baum reifen können. Sie reifen. Das Handeln erwächst aus dem Sein.“(Aus: Paul Tillich; In der Tiefe ist Wahrheit, Seite 89 ff).
Und dieses (neue) Sein ist dein Leben, wie du es für dich gestaltest!