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von Cemper » 03.04.2012, 10:30
Dietmar - ich antworte Ihnen so:
Beim Lesen Ihres Eintrags habe ich den Eindruck, dass der Begriff Religionsfreiheit nicht ganz klar ist. Religionsfreiheit ist die in der Erklärung der Menschenrechte und anderenorts (z.B. im Grundgesetz der BRD) verankerte und ausgewiesene Freiheit eines Menschen zur Bildung einer religiösen bzw. Glaubensüberzeugung oder einer Weltanschauung. Sie ist auch die Freiheit zur ungestörten Ausübung der Religion und Weltanschauung - und zu ihr gehört auch das Recht zur Werbung oder Mission. Religionsfreiheit ist schließlich auch die Freiheit der Ablehung von Religionen, Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen.
Religionsfreiheit ist - wie der Begriff erkennen lässt - ein Teil der Freiheit. Freiheit heißt unter anderem, aber vor allem: Ich habe Verantwortung für mich. Religionsfreiheit heißt dann: Ich bin für mein "religiöses Verhalten" und meine Weltanschauung verantwortlich. Diese Freiheit und Verantwortung wird in der Gesellschaft gelebt. In der Wirklichkeit der Gesellschaft - zu der auch die Lebensbereiche Familie und Verwandtschaft zählen - gehören geradezu selbstverständlich "problematische Konstellationen" - um es mal so zu sagen. Wir werden politisch und religiös sozialisiert. Es gibt religiöse Konditionierungen im Kindesalter und später vielleicht das Ausgesetztsein repressiver Einflussnahmen (Druck der Umgebung usw.) bis hin zur Indoktrination etwa durch eine Kirche. Das Spektrum ist hier sehr breit. Beispielsweise ist das Leben für Christen in der Ex-DDR nicht immer einfach. Ein evang. Christ hat beispielsweise in kleinen Orten Bayerns eine andere Situation als Katholiken. Eine befreundete Frau ist einer Pastorenfamilie aufgewachsen; der Vater hätte es gern gesehen, wenn die Tochter Theologie studiert - sie hatte aber "von Kirche die Nase voll" und ist abgehauen. Nach einer medizinischen Ausbildung ist sie dann ... Pastorin geworden. Ein Freund - ebenfalls Pastor - ist in einer Familie aufgewachsen, die zu einer ganz kleinen, etwas verschrobenen Glaubensgemeinschaft gehörte; er hat sich gesagt: Das mache ich nicht mit, ich studiere Theologie. Mitglieder der Neuap. Kirche haben - je nach Umgebung - auch mehr oder weniger besondere Situationen.
Wie immer nun die Verhältnisse sein mögen: Jeder ist für seinen Glauben und sein religiöses Verhalten verantwortlich. Das ist der Grundsatz! Er gilt auch für neuap. Zeitgenossen.
Mir geht es auf die Nerven, wenn ich von Menschen, die mit der Neuap. Kirche Schwierigkeiten haben, ständig Kritik an der Kirche und Gejammere über dies und das und jenes höre - bis hin zum Vorwurf der Einschränkung der Religionsfreiheit. Diese vielfach larmoyanten Großjammerer wirken auf mich oft so: In der Zeit ihrer NAK-Zugehörigkeit fühlten sie sich erwählt. In der Zeit der Ablehnung der NAK fühlen sie sich verführt. Die Menschen tun so, als wären sie immer nur Objekt und eben kein in Freiheit und eigener Verantwortung lebendes Subjekt. Ich bestreite nicht, dass die Verhältnisse unterschiedlich kompliziert sind; es gibt Menschen, die es einfach haben, und es gibt Menschen, die es schwer haben, und ich sehe, dass mancher neuap. Christ schon seine besonderen Problemlagen hat. Ich bin aber nicht bereit, diesen Menschen einen Sonderstatus zuzugestehen und sage: Hört auf mit eurer Kritik und eurem Gejammere. Bemüht euch zu verstehen, was Religionsfreiheit wirklich bedeutet und dass jeder - auch ihr - eure Freiheit in Verantwortung wahrnehmen müsst und könnt.
Da Sie meine neuap. Verwandtschaft ansprechen:
Ich erwähne sie oft, weil sie für mich ein Beobachtungsfeld ist. Ich kann sehr schön sehen, wie sich etwas entwickelt, wobei ich mir natürlich darüber klar bin, dass ich nur einen Ausschnitt sehe. Das ist aber normal. Andere - Sie zum Beispiel - überschauen auch nicht die ganze Wirklichkeit. Wenn ich nun das, was ich sehe, und was zu einem gewissen Teil wohl verallgemeinerbar ist, mit dem vergleiche, was die Kritiker schreiben, dann frage ich mich: Wo leben diese Kritiker eigentlich?
Ein Beispiel: Gestern oder vorgestern wurde in diesem Thread etwas von Bildungsfeindlichkeit der NAK geschrieben (ich meine, dass Sie es waren). Dazu kann ich aus meiner Sicht nur sagen: Unsinn. In meiner neuap. Verwandtschaft sind von den nach 1945 geborenen Frauen und Männer (und dann auch von ihren Kindern) ungefähr 75 Prozent zu einem Gymnasium gegangen, haben Abitur gemacht und Jura, Medizin, Ingenieurwesen, Mathematik, Musik, BWL und Lehramtsfächer für Grundschulen und Gymnasien studiert. In einer der Kirchengemeinden meiner Verwandtschaft sind unter den Priestern ein Medizinprofessor, ein promovierter Informatiker und Mathematiker. Der Chor wird von einer Rechtsanwältin geleitet. In einem anderen Teil der Verwandtschaft sind die gemeindlichen Verhältnisse anders - aber der "Apostel" war Gymnasiallehrer und der Bezirksälteste ist Schulleiter (Oberstudiendirektor). Denken Sie bitte nicht, dass mir diese beruflichen Seiten besonders wichtig sind. Ich erwähne sie nur, weil ich zwischen dem, was ich hier lese, und dem, was ich erlebe, teilweise eklatante Widersprüche sehe - und wenn das so ist, dann lasse ich mir kein X für ein U vormachen.
Ein anderer Punkt: In dieser Verwandtschaft ist mehr als ein Drittel sichtlich gern neuapostolisch. Diese Leute tun viel "für die Kirche". Wahrscheinlich stecken sie auch viel Geld rein. Ein anderer Teil ist - nun ja. Man geht zum Gottesdienst und denkt sich oft sein Teil. Ein knappes Drittel (jüngere Leute) haben sich von der NAK verabschiedet. Gejammere und Schimpfereien habe ich aber von einer Ausnahme abgesehen nicht gehört. Im Gegenteil - man geht eher fröhlich damit um. Meine Frau - die aus einer neuap. Familie kommt und mit der NAK nichts mehr zu tun hat - redet nicht negativ über die Kirche; sie hatte eine - wie sie sagt - schöne Kindheit und Jugend und eine ordentliche Ausbildungsmöglichkeit an einer Universität und künstlerischen Hochschule.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich weiß, dass es andere Verhältnisse gibt. Gleichwohl bleibt es bei dem Grundsatz: Religionsfreiheit heißt, dass jeder für sich verantwortlich ist und nicht immer andere (hier die komische NAK) für sein Schicksal verantwortlich machen kann. Viele neuap. Christen nehmen nach meinem Eindruck diese Verantwortung auch wahr. Und unter uns gesagt: In meiner evang. Kirchengemeinde gibt es einige, von denen ich denke, dass sie nicht alle Tassen im Schrank haben: religiös nicht und politisch auch nicht. Und einige ticken nicht richtig. Eine Frau beispielsweise ist fast in jedem Gottesdienst. Nach den GD-Besuchen schreibt sie der Pastorin / dem Pastor lange Briefe, in denen sie erläutert, was alles falsch war.
Ansonsten: Mir gehen in der kritischen Diskussion über die NAK - die ja im Prinzip notwendig ist - auch noch die oft unflätigen Ausdrucksweisen gegen den Strich. Und die vielfach pauschalen Behauptungen auch. Man sollte sich schon um empirisch gesichertes Basismaterial bemühen.
Eine Bitte zum Schluss: Hören Sie auf, mich in eine falsche Ecke zu schieben. Ich bin nicht Mitglied der Neuap. Kirche und nicht ihr Propagandist, sondern bemühe mich nur um eine gewisse Sachlichkeit.
So weit - so gut oder so schlecht. Wie Sie wollen.
Cemper